von: Holger Jost
Kennen Sie die Klappergrasmücke? Nein? Dann werden Sie das Vögelchen vermutlich auch nicht mehr kennen lernen. Es gehört zu den Brutvögeln, die sich aus Berlin verdünnisieren. Nicht freiwillig.
„Kernindikationen zur nachhaltigen Entwicklung Berlins, Datenbericht 2014“ heißt eine nagelneue Untersuchung, die wir dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg und der Abteilung Stadt- und Freiraumplanung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz verdanken. Sie wurde am 27. Oktober vorgestellt. Jeder, der in unserer Stadt mitentscheidet, ob und wo Grünflächen zugebaut werden, sollte sich die 56 Seiten gut durchlesen. Auch Michael Müller – denn was seine eigenen Experten da schreiben, müsste den Gerade-noch-Stadtentwicklungssenator mindestens ins Grübeln bringen.
So erfährt man, dass der Bestand repäsentativer Vogelarten von 1989 bis 2010 um 52,2 Prozent zurückging. Eine Halbierung! Zu den 30 untersuchten Arten gehören neben der Klappergrasmücke auch Feldlerche, Gartenrotschwanz, Hausspatz, Nachtigall, Rotkehlchen, Schwarzspecht, Zaunkönig oder Zwergtaucher. Eine „dramatische Entwicklung“ nennen das die Experten und führen als Ursache den Rückgang von Frei- und Grünflächen durch die Erschließung für Bau- und Infrastrukturprojekte an. Also Beton auf Teufel komm raus.
Klingt traurig, aber ist das auch wichtig? „Eine große Artenvielfalt an Tieren und Pflanzen ist wesentliche Voraussetzung für einen funktionieren Naturhaushalt, der eine wichtige Lebensgrundlage des Menschen bildet. Gerade in urbanen Räumen kommt dem Schutz städtischer und stadtnaher Natur- und Kulturlandschaften eine besondere Bedeutung zu“, heißt es in dem Bericht (S. 37). Und: „Der Entwicklungstrend ist eindeutig negativ und die Biodiversität geht zurück. Das Gefährdungsrisiko für bestimmte Arten steigt an.“
Hallo, Stadtrat Marc Schulte! Achtung, Demnächst-Regierender Michael Müller! Noch brüten etliche dieser Vögel in der Kleingartenkolonie Oeynhausen, wie der diesjährige Schnappschuss von der
Klappergrasmücke im Veilchenweg beweist. Vögel oder Beton? Noch ist ein Umdenken möglich, natürlich nicht nur bei den Schmargendorfer Gärten.
Der Bericht über Berlins Kernidikatoren zur nachhaltigen Entwicklung zeigt aber auch, wie wichtig die Frage Bäume oder Beton? ist. Die Experten nahmen nämlich auch die Berliner CO2 –Emissionen unter die Lupe. Und das liest sich zunächst sehr erfreulich. Denn zwischen 1990 und 2010 sanken diese Kohlendioxid-Emissionen aus dem Primärenergieverbrauch in Berlin um 26,6 Prozent auf 19,8 Millionen Tonnen. Sieht man genauer hin, fällt aber auf, dass der aktuelle Fünf-Jahres-Trend eine Stagnation aufweist. In den Jahren 2007 bis 2010 sogar wieder ansteigt (S. 26 ff).
Und da kommen die Bäume ins Spiel. Wussten Sie, dass beispielsweise eine gut 100 Jahre alte Buche über 3 Tonnen CO2 speichert, also der Luft entzieht? Dieser Wert hängt von Faktoren wie Holzdichte, Alter des Baumes oder Zuwachsrate ab, unterscheidet sich also von Baum zu Baum.
Aber es lässt sich erahnen, welchen Frevel Stadträte anrichten, die in Charlottenburg-Wilmersdorf zwischen 2010 und 2013 für gefällte 1520 Straßenbäume nur ganze 880 nachpflanzen ließen (Antwort auf Schriftliche Anfrage 17/14484, Abgeordnetenhaus): 880 Bäume, die sonst Staub und gemeinsam rund 2500 Tonnen Kohlendioxid aus der Luft filtern. Von denen jeder einzelne etwa zehn Menschen mit Sauerstoff versorgen kann.
Und es geht ja nicht nur um Straßenbäume. Allein in der von Baggern bedrohten Kolonie Oeynhausen stehen fast 1500 Bäume. Darunter auch vom Aussterben bedrohte Obstarten sowie 80 Jahre alte Walnuss-Riesen, die durch die Berliner Baumschutzverordnung streng geschützt sind. Sie alle sollen gefällt, gerodet, platt gemacht werden.
Jetzt stellen sich hoffentlich etliche Entscheidungsträger ernsthaft die Frage: Ist die Raffgier-Befriedigung von Heuschrecken für Berlins Politiker wirklich wichtiger als unsere CO2–Bilanz und das Überleben von Vögeln?
Holger Jost
Kommentar schreiben
Heulen (Mittwoch, 29 Oktober 2014 12:07)
...könnte man, wenn man diesen Artikel liest. Aber, ich befürchte, dass die letzte Frage mit ja beantwortet werden muss. Jetzt steht ja nun noch der Termin 31.10.2014 an, wenn er denn statt findet. Es ist alles so traurig.
Rotkehlchen (Donnerstag, 30 Oktober 2014 15:08)
Wie heisst er doch gleich, der Staatssekretär für Verkehr und Umwelt im Land Berlin? Ist das nicht zugleich der Kreisvorsitzende der SPD in Charlottenburg-Wilmersdorf? Steht da nicht auch noch ´ne Beförderung im Raum? WÄHLT SIE AB, diese SPD!
Winnie (Donnerstag, 30 Oktober 2014 20:16)
Die armen SPD-Politiker sind doch völlig überfordert.
Fragen, Fragen, immer nur Fragen. Es kann der Käfer den Specht nicht ertragen. Gib mir ein Rätsel auf; ich werde sagen: Da musst du jemand anders fragen. (Winnie der Puh).
Nicht dabei gewesen (Freitag, 31 Oktober 2014 14:38)
Kann jemand über den heutigen Termin Bezirksverb. ./. Lorac berichten? Konnte nicht dabei sein, würde mich aber sehr interessieren, danke vielmals.
suse (Freitag, 31 Oktober 2014 23:33)
jetzt weiss ich endlich, wer da vor ca. 3 Wochen bei mir im Gestrüpp unterwegs war, gleich zu viert! Klappergrasmücken! Habe sie lange beobachtet - so klein, so faszinierend! Was man von unseren "politischen Beamten" im Bezirk (sie sind ja rechtlich keine "Politiker", nur Möchtegern) nicht sagen kann!
Xenia (Dienstag, 04 November 2014 22:27)
Vielen Dank für den gewohnt informativen und launigen Beitrag.